Ultras - Dokumentation über die Fan-Szene in Deutschland
-
-
Zitat
Ultras sind nicht die bösen Brandstifter in deutschen Stadien. Sie sind nicht (nur) die Gewalttäter, als welche sie gern hingestellt werden. Sie tun auch Gutes – für den Fußball und die Gesellschaft. Das sagt zumindest unser Autor Christoph Ruf, der jahrelang zu diesem Thema recherchiert hat. Und er mahnt: Die Stimmung in den Arenen kippt gerade. Wenn die Ultras verschwinden, kommen die rechten Hooligans zurück. Ansichten von innen.
Seit fast 15 Jahren habe ich meinen Stehplatz in der Kurve mit einem Sitz auf der Pressetribüne eingetauscht. Längst bin ich vom Fußballfan zum Sportjournalisten mutiert. Ich beschäftige mich mit der Krise beim SC Freiburg, dem Trainerwechsel in Nürnberg und der Frage, warum „RB“ (offiziell: „Rasenballsport“, inoffiziell: „Red Bull“) Leipzig in Chemnitz, Essen oder Kiel Beliebtheitswerte hat wie ein Beinbruch im Skiurlaub. Wenn mein Verein gewinnt, freut mich das irgendwie. Verliert er, ärgert mich das ein paar Minuten. Höchstens. Kein Ereignis im Fußball kann mir das Wochenende versauen. Also bin ich kein Fan mehr. Würde ich das von mir behaupten, käme ich mir vor wie einer dieser Politiker, die einmal im (Wahl-) Jahr ins Stadion gehen und sich vorm Nahen des Fotografen schnell einen Fanschal umlegen lassen.
Echte Fans verzweifeln nach Niederlagen, sie sind dann manchmal tagelang nicht ansprechbar. Und sie tun Dinge, die Nicht-Fußballfans etwas absonderlich finden. Ein Dortmunder Ultra berichtete, dass er anno 2004 die Abiturprüfung verweigert und ein Jahr später nachgeholt hat. Ein Autoaufkleber „Abi 04“ hätte ihn an den vermaledeiten Lokalrivalen aus Gelsenkirchen erinnert. Dennoch prägt mich meine Fansozialisation noch heute. Man muss mir nicht erklären, warum es großer Mist ist, wenn das Auswärtsspiel des eigenen Vereins mal wieder auf einen Freitag oder Montag fällt, was an Klatschpappen nervt und an Stadionsprechern, die glauben, es interessiere sich irgendjemand für ihre gute Laune.
Und ich weiß, wie man sich als Fan fühlt, wenn man den Eindruck hat, ausgenutzt zu werden. Das neue Fantrikot soll man kaufen, die Mannschaft schön unterstützen und die teure Stadionwurst essen – aber sonst soll man brav die Klappe halten. Das hätten viele Fans schon vor 20 Jahren nicht eingesehen. Heute artikulieren die Ultras den Protest. Ultras sind also zuallererst einmal Fußballfans. Wer ihnen das abspricht („sogenannte Fans“) macht sie wütender als derjenige, der sie mit Schimpfwörtern überzieht.
Mit der Ultra-Szene beschäftige ich mich seit Jahren. Und trotzdem stört mich vieles an ihr immer noch. Nicht nur der Dauergesang in der Kurve, der irgendwie immer gleich klingt. Egal, ob beim Ballgeschiebe in der 62. Minute oder beim letzten Konter der eigenen Mannschaft, die gerade 0:1 zurückliegt – aus vielen Fankurven legt sich der immergleiche Klangteppich über das Geschehen auf dem Rasen. Damit nicht genug: Es ist grotesk, wie sich Menschen, die so gern rebellisch wären, „der Gruppe“ unterordnen, und es befremdet die Ultra-spezifische Mischung aus kindlichen Pfadfinder-Riten und einer Gewaltfaszination, die man intelligenten Menschen nur schwer verzeihen kann. Nach wie vor braucht es viele hundert Polizisten, um dafür zu sorgen, dass es bei Spielen wie Hamburg gegen Werder, Karlsruhe gegen Stuttgart, Schalke gegen Dortmund oder Braunschweig gegen Hannover nicht zu vielen, vielen Schwerverletzten kommt.
Es gibt einiges, was man an Polizeieinsätzen kritisieren kann, zum Beispiel das Ausmaß an Polizei-Willkür, die immer wieder auch Fans trifft, die sich nicht das Geringste haben zuschulden kommen lassen. Doch dass man die Polizei, die am Wochenende auch lieber frei hätte, leider braucht, weil es sonst zu Massenschlägereien zwischen den rivalisierenden Ultra-Gruppen käme – man kann es nicht bestreiten. Allerdings gibt es auch viele Ultra-Gruppen, die selbst nicht gewalttätig sind, längst hat in der Szene auch hier eine Selbstkritik eingesetzt, die in die richtige Richtung führt. Ein Anfang, immerhin. So viel zum Negativen.
Doch das, was ich an der Ultra-Szene schätze, überwiegt bei Weitem. Die Szene ist lebendig, sie diskutiert, sie er-lebt die Welt mit Händen, Hirn und Füßen, anstatt sie von zweifelhaften Autoritäten erklären zu lassen. Sie unterscheiden sich also wohltuend von vielen ihrer Altersgenossen: von all den Konsumsklaven, die auch am gestrigen Samstagmorgen vor „Primark“ oder „Starbucks“ in der Karlsruher Fußgängerzone herumstehen, stupide auf ihr Smartphone starren und sich offenbar nur dann unterhalten können, wenn ihre Telefone irgendeinen Gesprächsgegenstand hervorzubringen scheinen. Doch erstaunlicherweise wird öffentlich weder die Kreativität der Ultras noch ihr Engagement für den Verein gewürdigt. Eine brennende Bengalfackel genügt zuweilen, um eine ganze Kaskade von Negativschlagzeilen über eine Szene auszuschütten, die bundesweit aus mehreren Zehntausend Menschen bestehen dürfte und die – ohne das an die große Glocke zu hängen – viel Gutes tut.
Seien es Kölner Ultras, die für Obdachlose und Kinder Tausende Euros gesammelt haben, St. Paulianer, die sich seit Wochen um die Lampedusa-Flüchtlinge in ihrem Stadtteil kümmern – oder die Bayern-Ultras, die das Andenken an den von den Nazis verfolgten ehemaligen Vereinspräsidenten Kurt Landauer in Ehren halten. Auch das Klima in den deutschen Fankurven ist deutlich ziviler geworden, seit die Ultras zur dominierenden Kraft im Block geworden sind. Wann haben Sie bei Ihrem Lieblingsverein zuletzt „Husch, husch, Neger in den Busch“-Rufe gehört? In den frühen Neunzigern, also vor dem Aufkommen der Ultra-Bewegung? Eben.
Allerdings kippt derzeit bundesweit in vielen Kurven die Stimmung, die in den allermeisten Fällen von einer Ultraszene dominiert war, die sich – egal, ob sie sich als links oder als „unpolitisch“ verstand – gegen Unterwanderungsversuche von rechts zur Wehr setzte. Doch das Pendel schlägt zurück. In vielen Stadien hat sich die Hooligan-Szene zurückgemeldet, die zum Teil seit Jahrzehnten tief mit der rechten Szene ihrer Stadt verstrickt ist. Wer zu erkennen gibt, dass ihm das nicht passt, bekommt gesagt, was Sache ist. So läuft es in Braunschweig, in Aachen, in Düsseldorf, in Duisburg. Und so läuft es in Dortmund, das längst als neue Hauptstadt der Neonazi-Bewegung gilt.
Dortmund, dessen Nazi-Szene bundesweit als Spinne im Netz agiert, ist nur das krasseste Beispiel: Die Hools prägten von den späten 1970er Jahren bis in die 90er Jahre hinein die Stimmungslage in den Fankurven. Straff organisiert wie sie waren und mit der Schlagkraft ihrer äußeren Erscheinung setzten sie in vielen Stadien einen rechten Konsens durch. Das änderte sich erst mit dem Aufkommen der Ultrabewegung. Ihren fanszeneinternen Bedeutungsverlust haben die Hools meist gut ertragen. Viele wurden als Familienväter vorsichtiger oder trafen sich nur noch sporadisch zu verabredeten Kämpfen außerhalb der Spielorte. Sollten doch die anderen, die Jüngeren singen, tanzen und bunte Choreographien zeigen.
Das alles störte die alten Herren nicht – im Gegenteil. Doch je selbstbewusster die Ultras ihren Spirit durchsetzten, je offensiver sie auch Themen wie Rassismus oder Schwulenfeindlichkeit einbrachten, desto lauter riefen sie diejenigen auf den Plan, die verlorenes Terrain zurückerobern wollen. „Das sind meist Leute, die sich schon geboxt haben, als man noch selbst mit dem Trömmelchen unterm Weihnachtsbaum war“, sagt ein Ultra aus Nordrhein-Westfalen. „Man weiß halt auch nie, wen die noch mobilisieren können.“
In den meisten Städten, in denen die politische Ausrichtung der Ultraszene nicht mit der der Hools übereinstimmt, haben Ultras in den vergangenen Monaten ungebetenen Besuch bekommen – zum Teil mitten in der Nacht. „Das Physische überlagert alles“, bestätigt ein Mitglied einer Ultraszene, die selbst unter Druck geraten ist. „Die arbeiten mit massiver Einschüchterung, und das sind keine leeren Drohungen“, berichtet ein anderer Ultra. „Man darf nicht vergessen, dass hinter der Nazi-Hoolszene nicht selten die organisierte Kriminalität steckt.“
Was passiert, wenn die Ultras aus den Kurven vertrieben werden, hat in der vergangenen Saison der HSV gemerkt. Dort, wo jahrelang die Fahne der antirassistischen Ultras von „Poptown“ hing, die wegen ein paar gezündeter Pyros Ärger mit dem Verein bekommen hatten, prangte plötzlich das Banner der „Hamburger Löwen“, einer Schlägertruppe aus den Achtzigern und Neunzigern mit besten Verbindungen ins Neonazi-Milieu der Hansestadt. Mitglieder genau dieser Gruppe waren 1982 an einem Überfall auf Bremer Fans beteiligt, der schlimme Folgen hatte: Der Werder-Fan Adrian Maleika war der erste Tote im deutschen Fußball. Er starb an einem Schädelbasisbruch. Maleika wurde keine 17 Jahre alt.
DIE RHEINPFALZ
Ludwigshafener Rundschau -
Interessanter beitrag. Aber die pauschalisierung von hooligans als neonazis ist mir definitiv zu krass. Klingt irgendwie so, wie sonst die medialen pauschalangriffe auf ultras, wenn bengalos gezündet werden..
Gesendet von meinem GT-I8190 mit Tapatalk 2