Mal wieder einen Leserbrief:
Politik
Maß halten
Array
Darf ich auf einer Parkbank sitzen? Der Mutter beistehen, wenn sie stirbt? Oder verbietet das der Gesundheitsschutz? Die massiven Beschränkungen unserer Grundrechte sind nicht immer vernünftig und überschreiten manchmal Grenzen. Eine kritische Zwischenbilanz. Von Rolf Gauweiler
Ein Gericht machte am Ende den Weg frei, gerade noch rechtzeitig an Gründonnerstag. Die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern wollte ihren Bürgern verbieten, über Ostern ans Meer zu fahren. Vor lauter Furcht, die Strände könnten überfüllt sein, wurden harmlose Spaziergänge in salziger Seeluft, in normalen Zeiten von Ärzten zur Hebung der Gesundheit dringend empfohlen, grundsätzlich zu riskanten Abenteuern umdeklariert.
Dabei wäre diese Abriegelung der Ostsee wie zu DDR-Zeiten nur eine kleine Unannehmlichkeit gewesen, ein eher banales Beispiel dafür, wie in dieser Krise die Grenze zwischen berechtigtem Gesundheitsschutz und übertriebener Beschneidung persönlicher Rechte verwischt wird. Anderes ist gravierender und sollte für einen Aufschrei sorgen. Eigentlich.
Unser Grundgesetz beginnt mit einem großartigen Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. In den vergangenen Wochen ist diese Würde nicht nur angefasst, sondern massiv verletzt worden. Es ist zutiefst unwürdig, wenn alte Leute einsam sterben müssen, wenn ihre Liebsten gehindert werden, ihre Hand zu halten, ihnen Trost zu spenden, weil das Seniorenheim unter Quarantäne steht, und wenn bei der Beisetzung nur eine staatlich begrenzte Anzahl von Trauernden am Grab stehen darf.
Am Start des Lebenswegs müssen jetzt werdende Väter den Klageweg beschreiten, bis eine Klinik einlenkt und sie bei der Geburt ihrer Kinder in den Kreißsaal lässt, damit sie ihren Partnerinnen zur Seite stehen können. Ist das Bekenntnis zur Familie als einer Keimzelle unserer Gesellschaft beliebig geworden?
Dabei hat sich die überwältigende Mehrheit der Deutschen in den Wochen des „Lockdown“ als aufgeklärte und vernünftige Bürger entpuppt. Fast alle haben sich in gebührendem Abstand voneinander vor die Supermärkte gestellt, auf ihre Urlaubsreise verzichtet, neben der Arbeit im Homeoffice als Hilfslehrer ihre Kinder unterrichtet. Manche taten es mürrisch, manche klaglos, nur leise seufzend. Und die Politik hat – was ihr einiges Vertrauen zurückgebracht hat – mit klarem Kompass agiert.
Niemand, der bei klarem Verstand ist, bezweifelt die Notwendigkeit einschneidender Beschränkungen in Zeiten wie diesen. Aber die Behörden schießen manchmal übers Ziel hinaus. Sie schließen Parks, umzäunen Ruhebänke, verbieten Kundgebungen, wie neulich in Frankfurt eine Motorradfahrer-Demo – mit virenstoppenden Schutzhelmen. Hat das noch etwas mit Gesundheitsschutz zu tun?
Amtspersonen sind Dienstleister einer offenen Gesellschaft, keine Obrigkeit wilhelminischen Zuschnitts. Sie müssen bei jeder Entscheidung abwägen, ob es nicht mildere Maßnahmen und angemessenere Mittel gibt, um Gesundheitsschutz zu gewährleisten. Muss denn ein Park, in dem Menschen ohne eigenen Garten auch mal ein bisschen Grün erleben können, komplett abgeriegelt werden, nur weil die Möglichkeit besteht, dass Coronapartys gefeiert werden? Müssen Gottesdienste gleich verboten werden, anstatt nach Formen zu suchen, bei denen Gläubige in gebührender Distanz gemeinsam beten können? Wenn schon der Bundestag Debatten mit Lücken zwischen den Abgeordnetenstühlen zuwege bringt, warum soll eine Andacht im Dom zu Speyer nicht möglich sein?
In der Corona-Krise misstrauen die Behörden den Bürgern zu oft, statt auf ihre Einsicht zu setzen. Sie werben nicht, sie drohen. Gehorsam wird zur Pflicht, Widerspruch zur Ordnungswidrigkeit.
Am traurigsten ist, dass die davon Betroffenen nicht nur schweigen, sondern manche freudig an der Demontage ihrer Rechte mitwirken. Die saarländische Wirtschaftsministerin Anke Rehlinger hat sich nach Ostern dafür entschuldigt, dass ihre Landsleute Eier (sie waren wohl gerade zur Hand) in Richtung von Autofahrern aus dem sonst wohlgelittenen Nachbarstaat Frankreich warfen, die es wagten, als Grenzgänger ins Lyoner-Ländchen einzudringen. Aus Mecklenburg-Vorpommern wird berichtet, dass an Wagen mit auswärtigen Kennzeichen Reifen zerstochen wurden. Eine Minderheit tobt sich aus und nähert sich geistig den Methoden der Blockwarte und Abschnittsbevollmächtigten zweier deutscher Diktaturen an.
Wer Bürgerrechte massiv einschränkt, muss das erklären, begründen und – sobald das verantwortbar ist – unverzüglich den früheren Zustand wiederherstellen. Denn es sind keine Privilegien, die der Staat den Bürgern gewährt oder gegönnt hat. Es sind Rechte, die jedem zustehen und die nur bei einer realen Gefahr für Leben und Gesundheit angetastet werden dürfen. Mit Maß.