Diskussionsthema zum Artikel: Geisterberg statt Betzenberg: Ein Tag ohne Fan-Ekstase
Geisterberg statt Betzenberg: Ein Tag ohne Fan-Ekstase
Im Heimspiel gegen Jena berichtete ich von der Pressetribüne aus. Wie dutzende Male zuvor auch schon. Und dennoch war alles anders. Arbeit unter Geisterspiel-Bedingungen: Ein Erfahrungsbericht.
„Stell dir vor es ist Heimspiel, und keiner geht hin". In Anlehnung an das berühmte Zitat des amerikanischen Lyrikers Carl Sandburg war dies ein passendes Motto für das zweite Geisterspiel auf dem Betzenberg, auch wenn die fehlenden Zuschauer natürlich gezwungenermaßen dem Spiel fernbleiben mussten.
Taubengezwitscher. Rasensprenger, die sich anschalten. Ein Spieler, der sich über eine missglückte Aktion ärgert. Das alles sind Dinge, die wohl seit Jahrzehnten alle 14 Tage auf dem Betzenberg bei Spielen des FCK geschehen. Für sich genommen sind sie auch völlig unspektakulär. Sie aber bei einem Punktspiel plötzlich wahrzunehmen, an dem Ort, welchen ich als mein zweites Wohnzimmer bezeichnen würde und von dem ich dachte, schon jeden denkbaren Sinneseindruck wahrgenommen zu haben, das war beeindruckend und verstörend zugleich.
Doch fangen wir vorne an. Um 12:15 parke ich mein Auto auf dem Parkplatz an der Westtribüne, wo mich schon in einem kleinen Zelt Mitarbeiter des FCK erwarten. Ich gebe einen vorher ausgefüllten Gesundheitsfragebogen ab, erhalte meine Akkreditierung, quasi die Zugangsberechtigung zum Stadion. Als letzten Check vor dem Einlass wird meine Temperatur gemessen. Alles gut. Ich darf hinein. Durch den TV-Tunnel geht es in unseren Betze – ein dunkler langer Gang, in dem an der Wand hunderte von Fernsehkabel entlang laufen. Und dann bin ich im Innenraum. Ganz plötzlich. Und stehe mitten vor der Westkurve. Vor einer menschenleeren Westkurve.
Normalerweise startet der Arbeitstag eines Journalisten am Spieltag circa zwei Stunden vor Spielbeginn im Medienzentrum, also an dem Ort, in dem auch immer die Pressekonferenzen stattfinden. Man bereitet sich vor, hält ein Plausch mit Kollegen und isst eine Kleinigkeit. Das alles entfällt in der Corona-Zeit. Das Medienzentrum ist gesperrt. Um Spielern nicht zu begegnen, muss ich einmal den kompletten Umlauf des Stadions entlang gehen, vorbei an der West-, Süd- und Osttribüne. Es ist nicht das erste Mal, dass ich den Betze aus dieser Perspektive leer erlebe, aber am Spieltag ist das einfach etwas anderes. Dann geht es direkt hoch auf die Pressetribüne.
Ein neues Spielerlebnis, aber: Ohne Fans ist der Fußball nichts
Es ist kurz vor 14 Uhr. Die Mannschaften sind vor wenigen Minuten vom Aufwärmen wieder in den Katakomben verschwunden. Ehe das Spiel beginnt, überprüfe ich noch einmal die Facebook-Seite von Treffpunkt Betze. Normalerweise würden jetzt tausende Kehlen ein stimmgewaltiges 'You’ll never walk alone' anstimmen, die Mannschaften kämen aus dem Spielertunnel und das Spiel würde beginnen. Doch das alles fehlt heute. Zuschauer sind keine da, ich blicke von meinem Presseplatz auf die völlig verwaiste Westkurve, an der ich beim Betreten des Stadions vorbeigelaufen war. Ein trauriger und trotzdem beeindruckender Anblick. Was für eine stolze Kurve. Nichts aber, an das ich mich gewöhnen möchte. So viel ist mir in diesem Moment klar.
„Beeilung, das Spiel geht gleich los!“, hallt es auf die Tribüne und ich muss lachen. Ist das jetzt die Geisterspiel-Alternative zum Warm-Up von Horst Schömbs? Natürlich nicht. Offenbar war es der Ruf irgendeines Mitarbeiters. Nicht einmal laut. Aber in der leeren, 50.000 Zuschauer fassenden WM-Arena wäre sogar zu hören, wenn ich innerlich an einer vergebenen FCK-Chance verzweifele.
„Kommt, auf jetzt!“, höre ich plötzlich zweimal kurz hintereinander in etwas abgewandelter Form. Mir wird bewusst, dass das die Spieler beider Mannschaften sind, die sich nochmal gegenseitig heiß machen. Für die Spieler ein alltägliches Ritual, noch nie aber habe ich diese Rufe wahrnehmen können. Wie auch bei tausenden von schreienden Menschen in der Westkurve.
Und dann laufen sie ein. Doch auch hier ist alles anders. Die FCK-Spieler benutzen den alten Spielereingang zwischen West- und Nordtribüne, die Gäste aus Jena kommen durch den gewöhnlichen Spielertunnel. „Oh, geht wohl los“, sage ich lachend zu einem Journalistenkollegen, der – wie alle Anwesenden im Stadion – mit Maske und 1,5 Meter Abstand von mir entfernt sitzt. Dann stellen sich alle 22 Mann und die Schiedsrichterin um den Mittelkreis und zeigen sich mit der „Black lives matter“-Bewegung solidarisch. Ein starkes und wichtiges Zeichen!
Danach geht es los. Kein Abklatschen, keine Shake-Hands mit dem Schiedsrichter-Gespann. Die Platzwahl fällt quasi unter den Tisch. Und dass der FCK diese offenbar verliert und schon in der 1. Hälfte auf die Westkurve spielen muss, wen interessiert es? Es ist sowieso niemand da, der die Roten Teufel nach vorne peitschen könnte. In den ersten Minuten des Spiels ist es wirklich ein eigentümliches Gefühl. Immer wieder schaue ich hinüber zur Westkurve und vergewissere mich, dass ich das gerade auch wirklich erlebe. Auch die mir auf meinem Platz näher gelegene Gästetribüne im Osten des Stadions bleibt auch nach dem zehnten überprüfenden Blick leer. Spielerrufe verpuffen nicht im Trubel von Fangesängen, sie sind auch für mich jetzt klar zu hören. „Zucki, das ist dein Ball!“, „Krausi, zurück!“, „Achtung, Hintermann!“.
So traurig, unnatürlich und unschön Geisterspiele auch sind, das möchte ich hier noch einmal betonen, für den Beobachter ist es eine interessante Erfahrung. Das Spielgeschehen rückt an den, der das Glück hat, so ein Geisterspiel live im Stadion verfolgen zu dürfen, näher heran. Man wird fast schon Teil des großen Ganzen, nimmt Dinge viel intensiver wahr. Gesten, die normalerweise eine Interpretation erfordern, werden lebendig. Taktische Anweisungen, die man auf dem Feld zu erkennen versucht, bekommen einen Namen, werden vom Trainer auf das Feld gerufen. Ob Boris Schommers gerade mit dem Spiel zufrieden ist? Was er wohl gerade Dominik Schad zugerufen hat? Man muss jetzt nur noch genau hinhören, um eine Antwort zu bekommen. In der 1. Halbzeit gegen Jena war er jedenfalls (noch) sehr zufrieden, so viel kann ich verraten.
So ungewohnt und unwirklich die Situation vor und zu Beginn des Spiels auch gewesen sein mag, als die Partie erst einmal angepfiffen ist, gewöhne ich mich erstaunlich schnell an die neuen Gegebenheiten. Man konzentriert sich eben auf das Spiel, auf seine Arbeit und die Berichterstattung und versucht, die neuen Möglichkeiten positiv für alle Daheimgebliebenen zu nutzen. Ganz ähnlich also, wie auch Spieler und Trainer sich bemühen, mit der Situation bestmöglich umzugehen.
Ein wahrer "lost place": Taubengurren statt Bier, Bratwurst und Choreo
Doch nicht nur die Akteure höre ich jetzt bei ihrer Arbeit. Auch Kollegen. Wenige Reihen unter mir sitzt der Mann, der für Magenta Sport das Spiel im Fernsehen kommentiert. Auch er ist nicht zu überhören. Da sitzt du im Stadion, beobachtest ein Drittliga-Spiel live und hast trotzdem den Fernseh-Kommentar im Ohr. Untermalt von Taubengurren und Vogelgezwitscher. Verrückte Zeiten.
Dann ist Halbzeit. Wo normalerweise tausende Menschen in die Katakomben eilen, um sich mit Bier, Bratwurst oder Weinschorle zu versorgen, herrscht jetzt gähnende Leere. Ich begebe mich Richtung Toiletten. Die Kioske sind geschlossen, vor den Aufgängen zu Tribünen ist ein Tor heruntergelassen. Alle paar Meter sehe ich ein Absperrband, was mir zu verstehen gibt: Hier darf niemand lang. Erstmals verstehe ich den Begriff Geisterspiel in seiner ganzen Tragweite. Im Fritz-Walter-Stadion herrscht wirklich eine gespenstische Atmosphäre. Die Größe und die Wucht der WM-Arena, sie macht dieses Gefühl noch eindrücklicher und bedrückender.
Überhaupt: Einzig der Weg von der Pressetribüne zu den Toiletten und aus dem Stadion heraus ist uns möglich. Zumindest theoretisch. Doch dazu später mehr.
Zurück auf meinem Presseplatz sind die Mannschaften schon auf das Feld zurückgekehrt. Läuft das Spiel etwa schon wieder? Ganz so leicht ist das gar nicht zu beurteilen, denn die Videowände des Stadions sind natürlich auch ausgeschaltet. Wie viel Uhr es ist, oder wie viele Minuten noch zu spielen sind, das kann ich nur erahnen oder errechnen. Beim Verlassen des Stadions werden wir später feststellen, dass an der Nordtribüne eine kleine Uhr für die Spieler angebracht ist, damit zumindest die Akteure wissen, wann sie ihre Schlussoffensive zünden müssen.
In Halbzeit zwei gibt es dann zumindest eine Konstante: Der FCK wankt, er zittert und verspielt um ein Haar noch seinen „Auswärts-Heimsieg“ gegen Jena. Das Heimrecht war mit den Thüringern getauscht worden, da die im heimischen Bundesland wegen der Corona-Auflagen derzeit nicht einmal trainieren dürfen. In der Pfalz müssen sie aber gegen den Abstieg kämpfen. Hätte mir das jemand noch vor wenigen Monaten gesagt, ich hätte die Polizei, nein besser den Krankenwagen gerufen. Wie gesagt: Verrückte Zeiten.
Das Spiel gewinnt der FCK am Schluss mit 2:1, die Erleichterung nach einer wackeligen zweiten Halbzeit ist groß. Normalerweise würde ich jetzt geschwind meine Sachen zusammen packen, die Treppen hinuntereilen und mich in die Mixed Zone begeben, um mit Spielern zu sprechen. Auch das fällt Corona natürlich zum Opfer. Wir Medienvertreter bleiben auf der Tribüne sitzen, verfolgen die Pressekonferenz mit den Trainern via Livestream und erhalten Spielerstimmen virtuell. Social Distancing eben. Auch wenn ich froh bin, wenn ich wieder einmal selbst mit Protagonisten sprechen kann, muss ich an dieser Stelle einmal ein großes Lob an die Presseabteilung des FCK aussprechen, die seit Wochen trotz aller Ungewissheit und allen Widrigkeiten ein problemloses Arbeiten ermöglicht!
Trotz Fan-Entzug: Momente zum Schmunzeln und jede Menge Eindrücke
Während wir auf die Pressekonferenz warten, wird es im Stadion noch einmal laut. Der Magenta-Kommentator, der uns schon während des Spiels mit seiner Einschätzung des Spiels versorgt hat, kommentiert jetzt die Highlights der Partie. Weil keine Übertragungswagen am Stadion stehen, natürlich auch von der Tribüne aus. Der Kollege ist mit so viel Emotion bei der Sache, dass am Spielfeldrand Dominik Schad, der sich gerade mit seinen Mannschaftskollegen ausläuft, auf ihn aufmerksam wird, und sich ein Lachen nicht verkneifen kann.
Als alle Stimmen eingefangen, alle Berichte geschrieben und auch der letzte Social Media Post gepostet ist, mache ich mich mit einem Kollegen langsam aber sicher auf den Heimweg. Heraus aus unserem Wohnzimmer. Aber wo müssen wir lang? Sind wir nicht hier vorhin hochgekommen? Die Tür ist bereits verschlossen. Das Stadion hat mittlerweile auch der letzte Kollege oder Mitarbeiter verlassen. Übernachtung auf dem „Geister-Betze“? Das wäre sicher noch ein bemerkenswerter Abschluss dieses außergewöhnlichen Tages.
Ein liebenswürdiger Ordner sperrt uns schließlich das verschlossene Tor auf und wir können – unter Einhaltung der Corona-Auflagen – durch den Innenraum des Fritz-Walter-Stadions den Betzenberg wieder verlassen. Hindurch durch den TV-Tunnel. Vorbei am Zelt vor dem Eingang, hinaus auf den Parkplatz.
Bevor ich in mein Auto steige, drehe ich mich noch einmal um und schaue auf die Westkurve des Stadions. Gerade erst ist sie 100 Jahre alt geworden. Was du schon alles mitmachen musstest, denke ich und fahre nach Hause. Voll mit Eindrücken und Emotionen. Wenn auch auf ganz andere Art und Weise, als die dutzenden Male zuvor.
Quelle: Treffpunkt Betze
Autor: Gerrit